NOLI ME TANGERE
Eine Installation für die Johanniterkirche
- Oktober bis 23. Dezember 2017
"Noli me tangere" von Elisabeth Eberle
Die Natur macht keinen Sprung.“ Carl von Linné, Philosophia Botanica, Stockholm 1751
Jenseits des Blütenzaubers Wie archäologische Funde aus einer fernen Zeit wirken die rätselhaften Skulpturen von Elisabeth Eberle auf dem offenen Boden in der Johanniterkirche. Nichts lässt annähernd ihren Ursprung erahnen. Auch die Künstlerin dachte nicht an eine Pflanze, als sie bei einem Spaziergang eine seltsame Entdeckung machte. Das vermeintliche Plastikspielzeug erwies sich als Frucht des Magnolienbaumes. Nicht der Zauber der Blüten sollte Elisabeth Eberle fortan beschäftigen, sondern die Geheimnisse der Früchte, in deren Keimen das Leben angelegt ist. Seit sieben Jahren setzt sich die Künstlerin intensiv mit den zapfenartigen orange-roten Früchten des Magnolienbaumes auseinander, die in reifem Zustand ihre Samen hervortreten lassen. Sie sammelt die Früchte, lässt sie altern und trocknen oder friert sie ein. Mittlerweile hat sie rund 100 Früchte in verschiedenen Stadien digital erfasst und katalogisiert. Durch vielfache Vergrößerungen entstehen daraus geheimnisvolle Skulpturen. Magnolien gibt es auf der Erde seit über 100 Millionen Jahren. Sie stammen ursprünglich aus Amerika und Ostasien, wo sie bis heute wild wachsen. Aus Europa verschwand die Pflanze, als es ihr während der Eiszeit zu kalt wurde. Über ihre Wiederentdeckung in der Neuzeit gibt es viele Versionen. Am plausibelsten klingt die Geschichte vom französischen Botaniker Charles Plumier, der die Magnolie in den USA entdeckte, als er dort im Auftrag von Louis XIV. nach neuen Pflanzen forschte. Er widmete sie dem Botaniker Pierre Magnol und gab ihr den Namen „Magnolie“. Die erste Magnolie kam erst 1740 durch einen Händler, der zwischen Europa und Amerika hin- und herreiste, nach Frankreich. Der schwedische Naturwissenschafter und Mediziner Carl von Linné (1707-1778) übernahm den Begriff für seine Pflanzensystematik. Als studierte Pharmazeutin weiß auch die Künstlerin Elisabeth Eberle, wie man die Natur mit System betrachtet. Sie arbeitet mit der Akribie und Präzision einer Forscherin. Ihre künstlerische Arbeit versteht sie als Spiel mit der digitalen Abstraktion. Im Kirchenschiff zeigt sie ihr digitales Herbarium in Form von 1 bis 1,7 Meter großen gefrästen Skulpturen aus Eichenholz. Teilweise sind diese mit Graphitstaub überzogen. Eine Berührung hätte also verschmutzte Hände zur Folge.
In einem sakralen Raum ist es wohl naheliegend, dass der Betrachter den Ausstellungstitel „Noli me tangere“ unweigerlich mit dem Johannesevangelium verbindet, also mit den Worten, die Jesus nach seiner Auferstehung an Maria Magdalena richtet, als sie ihn zunächst für den Gärtner hält. An ein Perpetuum Mobile erinnert die Installation „Handschmeichler“ in der Sakristei. Sie besteht aus 17 cm langen Latexmodellen, die ungeachtet des Titels der Ausstellung berührt werden dürfen. Durch die Vergrößerung ändern die Baumfrüchte im Kirchenschiff ihre physische Präsenz und damit auch den Bezug zum eigenen Körper und lösen sowohl Faszination als auch Unbehagen aus, erklärt Elisabeth Eberle: „Ein weiterer Schritt des Experimentierens ist die Beobachtung, wie die Leute auf meine Skulpturen reagieren. Es ist wie eine Art pflanzlicher Rorschachtest oder Spiegelbild für den Betrachter. Diese Erfahrungen bringen auch mich weiter.“ Für die Kunsthistorikerin Cynthia Gravanic verändert das Spiel mit den Dimensionen die Wahrnehmung der Magnolienfrüchte auf verblüffende Art. „Hier erinnern sie an verkohlte Körper mit hypertrophen Muskelsträngen in unnatürlicher Torsion, da an Handschmeichler mit erotischen Konnotationen.“ Elisabeth Eberle ist ein Universalmensch im Sinn der Renaissance. Ausgebildet in der Wissenschaft der Pharmazie erforscht sie künstlerisch den Diskurs zwischen Natur und Kultur. Das stetige prozesshafte Weiterentwickeln von Formen der Natur mittels technologischer Medien bildet für die Künstlerin letztlich die Basis des Begreifens einer Rückkopplung der digitalen Welt auf unsere Gesellschaft. „Unser idealisiertes Naturverständnis ist eine Illusion. Denn eine unangetastete Natur gibt es nicht. Jetzt stellt sich die Frage, an welchem Punkt die Eingriffe wegen der menschlichen Unzulänglichkeit aus dem Ruder laufen.“ „Die Natur macht keinen Sprung.“ Dieses Zitat von Carl von Linné ist aus dem 18. Jahrhundert überliefert. „Die Natur macht keine Sprünge galt, bis der Mensch ihr auf die Sprünge half“, ergänzte der Schweizer Publizist Ernst Reinhardt im 20. Jahrhundert. Elisabeth Eberle entwickelt diese Überlegungen in ihrer Kunst weiter. Der Glamour der Blüten des Magnolienbaumes ist jedenfalls weit weg, wenn die Künstlerin uns mit den Abgründen der Früchte konfrontiert, sagte der Schweizer Ausstellungsmacher Guido Magnaguagno zur Eröffnung der Ausstellung: „Ihr großes Thema ist die Verwandlung, von der Naturform in die Kunstform. Sie führt uns mit ihrer Kunst in dunkle Gefielde des Menschseins. Das Ungeheuerliche dieser zerfallenden Magnolienfrüchte ist schwer benennbar. Wenn wir diese hybriden Figuren sehen, können wir uns noch gar nicht vorstellen, was wir hier in der digitalisierten Welt noch produzieren.
Karin Guldenschuh